Digitale Bewegungsangebote – Hintergrund, Bestandsaufnahme, Qualitätskriterien, Perspektiven

Prof. Dr. habil. Michael Tiemann, SRH Hochschule für Gesundheit, Department Gesundheit und Soziales

Hintergrund

Mangelnde körperliche Aktivität stellt seit vielen Jahren ein globales und lange Zeit unterschätztes Gesundheitsproblem dar. In Deutschland bewegen sich aktuell gut drei Viertel (77,4 %) aller Erwachsenen (im Alter von 18 bis 64 Jahren) zu wenig und erreichen nicht die aktuellen nationalen und internationalen Aktivitätsempfehlungen1. Da mangelnde körperliche Aktivität zu den bedeutendsten gesundheitlichen Risikofaktoren überhaupt zählt, hat dies gravierende Auswirkungen auf die individuelle und öffentliche Gesundheit (Public Health) und führt unter anderem zu einer erheblichen Verringerung der Lebenserwartung und der Lebensqualität sowie zu einer deutlichen Erhöhung der Auftretenswahrscheinlichkeit vieler nicht-übertragbarer Krankheiten wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus Typ 2, Brust- und Darmkrebs. Damit verbunden verursacht mangelnde körperliche Aktivität auch enorme Gesundheits- bzw. Krankheitskosten, die sich nach Berechnungen des Centre for Economics and Business Research (Cebr) für Deutschland auf 14,5 Mrd. Euro pro Jahr belaufen2.

Um das Ausmaß mangelnder körperlicher Aktivität sowie die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken und Kosten zu reduzieren bzw. das große gesundheitsförderliche und präventive Potenzial regelmäßiger körperlicher Aktivität stärker und konsequent(er) zu nutzen, bedarf es vielfältiger Maßnahmen sowie systematischer Strategien und Interventionen. Dabei genügt es nicht, dass eine Intervention unter gesundheitlichen Aspekten wirksam ist. Es kommt zudem insbesondere auch darauf an, Menschen, die bislang wenig körperlich aktiv waren, für Bewegung und einen aktiven Lebensstil zu begeistern und ihnen den Zugang zu entsprechenden Maßnahmen zu erleichtern.

Neben den „klassischen“ Bewegungsangeboten (häufig in Kursform) sowie lebenswelt- bzw. settingbezogenen Maßnahmen wird in zunehmendem Maße auch digitalen Bewegungsangeboten ein großes Potenzial zur Steigerung gesundheitsförderlicher körperlicher Aktivität und zur Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung zugeschrieben.

Als besondere Vorteile digitaler Bewegungsangebote gelten dabei vor allem deren flexibler Einsatz und nahezu unbegrenzte Reichweite. Ferner sind digitale Bewegungsangebote häufig vergleichsweise kostengünstig und können gut an individuelle Voraussetzungen und Bedürfnisse angepasst werden. Des Weiteren können sie durch Updates regelmäßig aktualisiert werden und besitzen eine relativ niedrige Nutzungshürde.

Studien zu Wirkungen digitaler Anwendungen und Angebote liegen bislang vor allem aus dem klinischen Bereich vor. Dabei gibt es z. B. Belege dafür, dass der Einsatz von Diabetes-Apps zu Verbesserungen der Blutzuckerkontrolle führt, onlinebasierte Selbsthilfeprogramme depressive Symptome signifikant reduzieren sowie internetbasierte Programme den Gesundheitsstatus von Patient*innen mit metabolischen und kardiologischen Erkrankungen und auch den Zugang zur Rehabilitation verbessern3.

Digitale Bewegungsangebote in Deutschland – Ergebnisse einer quantitativen und qualitativen Bestandsaufnahme

Für den nicht-klinischen bzw. den Bereich der Gesundheitsförderung und (Primär-)Prävention liegen dagegen bislang kaum Wirksamkeitsnachweise für digitale Anwendungen und Bewegungsangebote vor. Zudem ist auch über Anzahl, Konzept, Struktur und Qualität gesundheitsfördernder und primärpräventiver digitaler Bewegungsangebote ebenso wie über Institutionen und Akteure, die im Bereich digitaler Anwendungen und Bewegungsangebote tätig sind, (noch) recht wenig bekannt .

Erste Erkenntnisse hierzu liefern die – im Folgenden kurz zusammengefassten – Ergebnisse einer Studie von Hoffmann, Tiemann und Bös4, die eine erste Bestandsaufnahme und Analyse digitaler Bewegungsangebote in Deutschland vorgenommen haben.

Die quantitative Bestandsaufnahme erfolgte mittels wissenschaftlicher Datenbanken (SURF, PubMed), der Suchmaschine Google und der Website der Gesetzlichen Krankenkassen („www.gesetzlichekrankenkassen.de“), die einen gesetzlichen Auftrag zur Erbringung von Leistungen auf dem Gebiet der primären Prävention und Gesundheitsförderung (§ 20 Sozialgesetzbuch V) haben und als eine geschlossene Anbieter:innengruppe eingegrenzt werden konnten. Bei dieser Suche wurden alle digitalen Bewegungsangebote erfasst, die bis zum Zeitpunkt der Erhebung (November 2016) online verfügbar waren und die definierten Einschlusskriterien (kein Dauerangebot; Zielgruppe Erwachsene; Angebote zum Themenfeld Bewegung; digitale Angebote, die überwiegend am Computer ausgeführt werden) erfüllten. Im Rahmen dieser Bestandsaufnahme wurden insgesamt 95 digitale Bewegungsangebote und -programme in Deutschland identifiziert. Als die mit Abstand größten Anbieter:innengruppen stellten sich dabei kommerzielle Anbieter:innen und Krankenkassen heraus.

Im Rahmen der qualitativen Analyse wurden die identifizierten 95 Bewegungsangebote zunächst hinsichtlich ihrer (primären) Zielsetzung untersucht. Die diesbezügliche Auswertung ergab, dass die meisten digitalen Bewegungsangebote (68 %, 65 von 95) auf Verbesserungen der allgemeinen Fitness und „nur“ etwa ein Drittel (32 %, 30 von 95) auf spezifische gesundheitliche bzw. präventive Effekte abzielen. Von diesen 30 Angeboten mit gesundheitsförderlicher bzw. präventiver Ausrichtung wurden 17 einer weitergehenden Analyse unterzogen. Die Reduzierung der Angebote begründete sich dabei durch zwei Faktoren. Zum einen wurde von jeder:m Anbieter:in nur ein Angebot genauer untersucht, da davon ausgegangen wurde, dass weitere Angebote eines Anbietenden gleich aufgebaut sind. Zum anderen war es bei einigen (acht) Angeboten nicht möglich, einen Zugang zu erhalten, da diese exklusiv für Versicherte der betreffenden Krankenversicherung zur Verfügung stehen. Die differenzierte Strukturanalyse der Angebote umfasste deren zeitlichen Rahmen sowie insgesamt zehn weitere Strukturmerkmale zu Angebotsorganisation, Teilnehmendenbezug und -betreuung (technische Betreuung, fachliche Betreuung, Trainingsplan, Vorgabe zur Bewegungsausführung, individuelle Gestaltungsmöglichkeit, Vorgabe zur Belastungsdosierung, Ausschlusskriterien, Wissensvermittlung, modularer Aufbau, Angebotsaufbau).

Die Strukturanalyse ergab, dass die Gesamtdauer der meisten digitalen Bewegungsangebote vier bis sechs Wochen beträgt, wobei meistens drei bis vier Einheiten pro Woche stattfinden. Bezüglich der weiteren Strukturmerkmale wurde deutlich, dass keines der Angebote alle Merkmale erfüllt. Gut die Hälfte (53 %, 9 von 17) erfüllt sechs bis sieben Merkmale, rund ein Drittel (35 %, 6 von 17) acht bis neun Strukturmerkmale. Bei den meisten Angeboten liegt der Fokus vor allem auf der Wissensvermittlung, Vorgaben zur Belastungsdosierung und Bewegungsausführung, Trainingsplänen sowie der fachlichen und technischen Betreuung. In Bezug auf die konkrete Umsetzung dieser Merkmale unterscheiden sich die verschiedenen Angebote allerdings wiederum teilweise erheblich, wobei sich die Unterschiede überwiegend auf den Grad der Individualisierung und die inhaltliche Umsetzung beziehen.

Fazit und Folgerungen

Die Ergebnisse der quantitativen und qualitativen Bestandsaufnahme zeigen einerseits, dass es bereits zahlreiche, z. T. sehr unterschiedliche digitale Bewegungsangebote in Deutschland gibt. Andererseits macht die Analyse auch deutlich, dass diese digitalen Bewegungsangebote teilweise noch inhaltliche Mängel aufweisen (z. B. unpräzise Zielgruppen- und/oder Zieldefinition, fehlende Ein- und Ausschlusskriterien für die Teilnahme, fehlende oder unzureichende individuelle Gestaltungsmöglichkeiten) und deren Qualität der weiteren Optimierung bedarf. Zukünftig muss der Fokus dabei vor allem auch auf Wirksamkeitsstudien und eine (weitergehende) Evidenzbasierung digitaler Bewegungsangebote gelegt werden.

Um das große gesundheitsförderliche Potenzial körperlicher Aktivität besser zu nutzen, bedarf es zudem, ebenso wie bei „klassischen“ Bewegungsangeboten, gezielter Maßnahmen zur Förderung der Adhärenz und Verstetigung regelmäßiger Bewegungsaktivitäten. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand haben sich dafür unter anderem kurze Auffrischungskontakte, sogenannte „Booster“ (z. B. via Telefon, E-Mails oder Online-Coaching), als zielführend erwiesen.


Quellen
1World Health Organization (2021). Germany. Physical activity factsheet 2021. https://cdn.who.int/media/docs/librariesprovider2/country-sites/physical-activity-factsheet---germany-2021.pdf?sfvrsn=1faf11c9_1&download=true
2International Sport and Culture Association (ISCA), Centre for Economics and Business Research (Cebr) (2015). The economic cost of physical inactivity in Europe. An ISCA/Cebr report. https://inactivity-time-bomb.nowwemove.com/download-report/The%20Economic%20Costs%20of%20Physical%20Inactivity%20in%20Europe%20(June%202015).pdf
3Gunst, A., Tiemann, M. & Bös, K. (2021). Digitale Bewegungsprogramme in der Prävention und Gesundheitsförderung. In M. Tiemann & M. Mohokum (Hrsg.), Prävention und Gesundheitsförderung. Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit (S. 1053-1061). Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62426-5_110
4Hoffmann, A., Tiemann, M. & Bös, K. (2019). Digitale Bewegungsangebote – Bestandsaufnahme, Qualitätskriterien, Perspektiven. Prävention und Gesundheitsförderung, 14(1), 60-68.


Kontakt
Prof. Dr. habil. Michael Tiemann
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