Digitalisierte Ernährung: Ethnografische Erkenntnisse aus smarten Küchen

Dr. Katharina Graf, Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, Goethe-Universität Frankfurt

Ganz unbemerkt ist die smarte Küche in Deutschland zur Realität geworden. Das liegt nicht nur am rezenten Erfolg digitaler Küchenmaschinen wie dem Monsieur Cuisine oder dem Thermomix, die mittels guided cooking die häusliche Ernährung digitalisieren. Es ist insbesondere das immer vernetzte Smartphone, das unsere Küchen smart macht. Während futuristisch anmutende Werbung für die Küche von morgen verspricht, dass einzelne Küchengeräte wie der internetfähige Kühlschrank, der Herd oder Ofen miteinander kommunizieren und unsere Arbeit übernehmen, haben Smartphones unser alltägliches Verhalten rund um Ernährung bereits merklich verändert.

Die Bandbreite der smarten Ernährungspraktiken

Beim Einkaufen kommen zusehends synchronisierte Einkaufslisten zum Zuge, die es zwei oder mehr Haushaltsmitgliedern ermöglichen per Klick pro Artikel den Einkauf live im Supermarkt mitzuverfolgen. Ebenso haben sich Smartphone Apps zum online-shopping etabliert, die die Präferenzen der Nutzer:innen kennenlernen und algorithmisch Vorschläge machen. Auch bei der Nahrungszubereitung kommt das Smartphone regelmäßig zum Einsatz, und zwar nicht nur bei der Rezeptsuche. Im Gegensatz zu herkömmlichen Wissensressourcen, wie Kochbüchern oder der Rezeptsammlung der Familie, werden Webseiten, Blogs und soziale Medien dazu genutzt das eigene Wissen systematisch zu erweitern. Zum Beispiel um sich gezielt über Nährstoffe oder Diäten zu informieren, individuelle oder kulturelle Vorlieben zu verhandeln oder den Umgang mit Unverträglichkeiten zu erleichtern. Mittels Fotos des angerichteten Essens werden außerdem Esserlebnisse online mit anderen geteilt, kommentiert und oftmals weiterentwickelt. All dies kann als smarte Ernährungspraktik bezeichnet werden.

Mensch oder Maschine?

Die Nahrungszubereitung in der digitalisierten Küche sollte als Kollaboration zwischen Mensch und Maschine verstanden werden; beim Einkaufen, Zubereiten oder dem Verzehr von Essen werden Mensch und Maschine sogenannte cyborg cooks (in Anlehnung an den Englischen Begriff cybernetic organism). Die mehr oder weniger intelligente Maschine ermöglicht es kochenden Menschen ihre eigenen körperlichen Fähigkeiten zu erweitern. Im Umkehrschluss kann nicht mehr klar zwischen handelndem Mensch und Maschine unterschieden werden. Dank Smartphone oder digitaler Küchenmaschine ist eine so große Infrastruktur von Daten involviert, steht so viel Wissen zur Verfügung, dass die Grenzen zwischen Köch:in und Küchentechnologie zusehends verwischen.

Aber nicht jeder Mensch wird gleichermaßen cyborg cook bei der Interaktion mit Küchengeräten. Es gibt viele Dimensionen, und natürlich deren Überlappungen, die die Mensch-Maschine-Interaktion in der Küche mitbestimmen, zum Beispiel abhängig von Geschlecht, Alter, Einkommen, Bildung sowie physiologischen oder kulturellen Präferenzen. Es mag nicht überraschen, dass im Alltag nach wie vor Frauen (insbesondere Mütter) die Verantwortung für die häusliche Ernährung haben. Doch dass diese im Gegensatz zu Männern den Möglichkeiten der smarten Küche besonders aufgeschlossen gegenüber und kompetent sind, ist weniger bekannt. Wie sich andere Faktoren, zum Beispiel Bildung oder Einkommen, auf die Interaktion mit digitalen Küchengeräten auswirken ist darüber hinaus kaum erforscht. Klar ist, dass viele marginale Gruppen bei Design und Entwicklung (digitaler) Technologien schlicht nicht mitgedacht werden, und daher auch seltener von deren Vorteilen profitieren dürften.

Die Reorganisation der Küche

Gleichzeitig legen historische Vorbilder heutiger Küchentechnologien, wie der Elektroherd oder die Mikrowelle, nahe, dass trotz Digitalisierung und Automatisierung der Mensch aus der häuslichen Küche nicht so schnell verschwinden wird. Im Gegenteil, während neue Küchentechnologien seit jeher als arbeitsreduzierend und effizienzsteigernd beworben werden, leiten sie eher eine Reorganisation häuslicher Arbeit ein. Im Laufe der Modernisierung der häuslichen Küche ist die Arbeit von Männern und Kindern wegrationalisiert worden, die der Frau und Mutter jedoch nicht. Sie ist vielmehr mit jeder neuen Technologie komplexer und anspruchsvoller geworden. Der derzeitige Anspruch an möglichst selbst gemachte und gesunde Ernährung könnte derart interpretiert werden. Während digitale Küchentechnologien wie das Smartphone und der Küchenroboter Rezepte vorschlagen, deren Zubereitung anleiten und teilweise durchführen, wird die Arbeit der Köchin / des Kochs zusehends unsichtbarer. Die Anschaffung, die Planung und Vorbereitung, selbst die soziale Aushandlung von Vorlieben und Präferenzen verlegen sich ins digitale, die Grenzen zwischen Arbeit und Vergnügen der Köchin / des Kochs verwischen. Auch in Zukunft wird die smarte Küche den denkenden, fühlenden und handelnden Menschen benötigen.

Insgesamt birgt die Digitalisierung häuslicher Küchen viele Potentiale, insbesondere in Bezug auf den Wissenszuwachs. Wie in anderen Lebensbereichen auch, ist der Griff zum Smartphone für viele Köch:innen zur Routine geworden. Neue Rezepte, Ideen und Austausch rund um eine gesunde Ernährung sind nicht nur sprichwörtlich in greifbarer Nähe. Gleichzeitig deuten sich ebenso viele Risiken an, nicht zuletzt in Bezug auf digitale Teilhabe. Denn je nach Geschlecht, Alter, Einkommen, Bildung, kulturellem Hintergrund oder auch körperlicher Verfassung (und deren verschiedenste Kombinationen) ergeben sich oft andere Bedürfnisse und Praktiken. Nicht viele digitale Angebote sprechen die Diversität unserer Gesellschaft an. Diese Erkenntnis überrascht nicht, denn in einer stark marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft werden digitale Dienste und Technologien für verhältnismäßig homogene Nutzer:innen entwickelt: die junge, weiße und vor allem kaufkräftige Mittelschicht. Um die Potenziale einer digitalisierten Ernährung voll ausschöpfen zu können, sollten also nicht nur diverse Nutzer:innen mitgedacht und unser Verständnis von „gesunder“ Ernährung entsprechend angepasst werden. Es sollte auch kritisch hinterfragt werden, welche Ansprüche wir an wen stellen, wenn wir unsere Küchen erneut reorganisieren.


Dr. Katharina Graf
Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie
Goethe-Universität Frankfurt
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