„Big Data“, Gesundheit und die Ethik in Zeiten der Pandemie

Prof. Dr. Karl-Heinz Wehkamp Universität Bremen, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik

Nationale und medizinische Ethikkommissionen haben sich ausführlich zum Themenkomplex „Big Data“, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz mit Blick auf Gesundheit und Krankheit geäußert. Eine zentrale Rolle spielt dabei das „Principle of Autonomy“ als kritischer Maßstab für Aspekte der Selbstbestimmung, der Datenhoheit und auch der Datensicherheit im Rahmen von Gesundheitsforschung, Qualitätssicherung, Administration, Management und Politik. Die Beurteilungen sehen große Chancen und eine Reihe von Risiken und haben viele Empfehlungen formuliert. Diese stehen einer dramatisch beschleunigten Entwicklung gegenüber.

Die aktuelle Corona-Pandemie führt der Weltbevölkerung faktisch vor Augen, wozu „Big Data“ heute bereits genutzt wird.

Für die Epidemiologie bieten sich neue Dimensionen der Datengewinnung, Verarbeitung und des Datenhandels, für politische Entscheider, Börsianer, Unternehmensvorstände und Militärs sind es erweiterte datengestützte Entscheidungsgrundlagen, für Bürger*innen neue Möglichkeiten der Prävention und Gesundheitsförderung, aber auch der Geldanlage oder der alltäglichen Orientierung. Die Tatsache, dass Milliarden Menschen durch die neuen Technologien überwacht und sanktioniert werden können, ist für manche ein Alarmzeichen, für andere ein gern akzeptiertes Phänomen, wenn es denn der eigenen Gesundheit dienlich ist.

Gesundheit als Schrittmacher

„Gesundheit“ ist in den vergangenen Jahrzehnten zum Schrittmacherargument der Digitalisierung und der mit ihr verwobenen „Big Data“-Entwicklung geworden. Sowohl die Medizin als auch Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation scheinen sich darüber neu zu erfinden: personalisierte/individualisierte Präzisionsmedizin, IT-gestützte Diagnostik und Therapiesteuerung, „Disease Interception“ (Krankheiten erkennen und aufhalten, bevor sie ausbrechen), genetisches Screening, Biobanken und umfangreiche Populationsstudien (zum Beispiel Nationale Kohorte oder UK-Biobank) sind einige Stichwörter. Verwaltungsprozesse und Steuerungsversuche im Gesundheitswesen (inklusive Krankenversicherungen) beginnen, „Big Data“ zunehmend zu nutzen. Die Versorgungs- und Qualitätsforschung bemüht sich um die Bereitstellung möglichst faktenbasierter Entscheidungsgrundlagen für Politik und Management.

Daneben wachsen kontinuierlich verschiedene Sparten einer neu konfigurierten Gesundheitswirtschaft, deren Geschäftsmodelle auf der Produktion und Vermarktung von „Big Data“ beruht. Software-Start-Ups entwickeln algorithmisch strukturierte Konzepte zur simultanen Steuerung, Überwachung, wissenschaftlichen Datengewinnung und Abrechnung von Versorgungsprozessen. Spezielle Beratungsfirmen gründen sich neu. Die technischen Voraussetzungen (unter anderem hochleistungsfähige Supercomputer) für die Gewinnung und Aufbereitung der gigantischen Datenmengen fordern spezielle Fachkräfte, Wartung, Sicherheitssysteme und einen (innerhalb der EU) aufwändigen Prozess der Synchronisation, der seinerseits wissenschaftliche und politische Ressourcen kostet. Die Halbwertszeit von Technik und Software ist kurz. Ein attraktiver Wachstumsmarkt wird stimuliert.

Die Ursprünge von „Big Data“

Die Ursprünge von „Big Data“ liegen in erheblichem Maße in den Erfahrungen des „Human Genome Projekts“, das mit der Vision gestartet und finanziert wurde, über die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts die Voraussetzungen für die Beseitigung der großen Volkskrankheiten zu schaffen. Diese von Anfang an naive Hoffnung wurde enttäuscht. Die Entdeckung der „Genschalter“ und nachfolgend der Epigenetik machte deutlich, dass auch Gene nur in einem Kontext aus biologischen und soziokulturellen Umwelten verstanden werden können. So mussten im nächsten Schritt der Forschung Daten aus Genetik, Genomik, Klinik, Ökologie, Ernährung, Bewegung und psychosozialen Zusammenhängen in den großen Biobankprojekten gesammelt und algorithmisch verrechnet werden. Das Training der Algorithmen in diesem überkomplexen Feld des Lebendigen ist von außen schwer durchschaubar. Die Auswahl der als relevant vermuteten Faktoren entscheidet über die Ergebnisse, ist selbst aber abhängig von Plausibilitätsüberlegungen, Interessen und Entscheidungsmacht.

Die Risiken von „Big Data“

Dem Versprechen größerer diagnostischer, therapeutischer und präventiver Präzision bei gleichzeitiger Erhöhung der Effektivität und Kostensenkung gesundheitsbezogener Maßnahmen und Systeme stehen erhöhte Risiken durch systematische Verzerrungen der Ergebnisse gegenüber, den versprochenen Einsparungen dagegen erhöhte Gewinnchancen der beteiligten Industrien und Dienstleister. Die Forschung, die den Glauben an sinnvolle und zum Nutzen der Bevölkerung verwertbare Ergebnisse aufrecht erhalten muss, erfüllt jedoch genau ein wesentliches Kriterium nicht, das von der herkömmlichen medizinischen Forschung verlangt wird: sie ist nicht frei von wirtschaftlichen und finanziellen Interessen.

So wird der Hype um „Big Data“, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und 3D-Technologien eben nicht allein von der um Forschungsmittel konkurrierenden Wissenschaft, sondern vorwiegend von Wirtschaftsunternehmen und der Wirtschaftspolitik gespeist.

Die „Big Data“ haben begonnen, im Namen der Gesundheit eine nahezu totale Erfassung der biogenetischen, ökologischen, sozialen und psychologischen Phänomene potenziell aller Menschen anzustreben, einschließlich ihrer Verhaltensweisen, Bewegungsprofile, ihrer äußeren Gestalt (Gesichtserkennung), ihrer Bezugspersonen und Kaufgewohnheiten. Vieles davon ist zum Faktum geworden, bevor die Mehrzahl der Menschen überhaupt verstanden hat, dass die Smartphones und Social Media ihre höchst persönlichen Daten und Fotos für wirtschaftliche Zwecke abschöpfen. Die Public Health-Wissenschaften sind in diese Entwicklung voll integriert. Die praktische Versorgung der Kranken in Kliniken und Praxen wird seit einigen Jahrzehnten zunehmend von der Gesundheitsökonomie und aktuell immer mehr auch durch Ingenieur*innen und IT-Spezialist*innen geformt. An die Stelle der „Graswurzelbewegung für Gesundheit“, wie sie in der Ottawa-Charta der WHO ihr Manifest gefunden hatte, sind IT- und Biotech-Firmen sowie zu Gesundheitskonzernen konvertierte Elektronik-, Optikfirmen oder Lebensmittelunternehmen getreten. Psychotherapien auf elektronischer Basis vervollständigen das Spektrum möglicher Überwachungsdaten, da nun auch die persönlichsten Facetten der Individuen in Clouds und Netzen sedimentiert sind.

„Big Data“ haben zweifellos ein gewisses Potenzial zur Weiterentwicklung von Medizin und Gesundheitswesen, von Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation. Es sollte aber nicht überschätzt werden. In den Ländern, die angeblich internationale Standards setzen (USA, UK), sind die Gesundheitssysteme nicht erst seit der Corona-Krise in keinem guten Zustand und die Lebenserwartung sinkt (im Gegensatz zu den optimistischen Prognosen des IT-Pioniers Ray Kurzweil).

„Big Data“ und Digitalisierung sind Instrumente, keine Ziele.

Die Möglichkeiten totaler Überwachung von Menschen und Bevölkerungen im Namen der Gesundheit stellt eine unbedingt ernst zu nehmende Gefahr dar. Zurecht weist der Ethikrat auf Gefahren wie den Verlust von Privatheit, Intimität und Souveränität bezüglich der eigenen Daten hin. Aktuell zeigen sich jedoch wesentlich elementarere, unheimliche Gefahren der Totalüberwachung ganzer Kollektive und Netzwerke, die als wertvolle und zweifellos effektive Instrumente des Gesundheitsschutzes Akzeptanz finden. Die Sorge um Gesundheit und Sicherheit kann selbst zur Gefahr für Sicherheit und Gesundheit werden. Ebenso wie Corona die Welt überrascht hat, haben Diktatoren schon mehrfach die Welt überrascht. Man stelle sich nur vor, das NS- oder das Stalin-System hätten alle diese Instrumente zur Verfügung gehabt.

Fazit

Die auf den Schutz der Autonomie zentrierten, gut gemeinten Ethik-Ratschläge erweisen sich angesichts all dieser Entwicklungen und Erkenntnisse als naiv. Dennoch muss dieser Aspekt in die empirischen Grundlagen ethischer Expertise ebenso eingehen wie die kritische Berücksichtigung nicht nur technologischer, sondern auch ökonomischer und politischer Entwicklungen. Corona lehrt uns, dass wir jederzeit mit dem Unerwarteten rechnen müssen.

Angesichts dieses „Doppelgesichts“ von „Big Data“ sind der Schutz der Menschenwürde, die Sicherung von Demokratie und Pressefreiheit sowie eine kritische Beobachtung monopolartiger Wirtschaftsstrukturen von entscheidender Bedeutung.


Literatur beim Verfasser
Prof. Dr. rer. pol. Dr. med. Karl-H. Wehkamp,
SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Universität Bremen
E-Mail: karl.wehkamp@uni-bremen.de