Gesundheitswahn, Selbstoptimierung und Prävention:

Welche Rolle spielt der smarte Assistent am Handgelenk?

Anna Knobloch Hashtag Gesundheit e. V.
Daniel Moll Hashtag Gesundheit e. V.

Bereits in ihrem 2009 veröffentlichten Zukunftsroman ”Corpus Delicti” beschreibt Juli Zeh eine Gesundheitsdiktatur, in der sämtliche Aktivitäten der Menschen erfasst und vom Staat überwacht werden. Schlaf- und Ernährungsberichte, das Tracken des täglichen Sportprogramms und regelmäßige Gesundheitskontrollen mittels elektronischer Sensoren sind in dieser Welt für alle verpflichtend. Gesundheitsschädliches Verhalten, wie z. B. Rauchen, wird bestraft. In diesem Roman verfolgt der Staat als oberstes Ziel, den Menschen ein gesundes Leben zu ermöglichen - zumindest rein körperlich betrachtet. Alles nur Science-Fiction?

In den letzten Jahren ist ein Trend hin zum “Quantified Self” zu beobachten. Der Drang danach, immer mehr “Körper-Daten” zu sammeln und diese zu optimieren, scheint unendlich. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Wearables beliebter sind denn je und 2021 einen Boom erlebten1. Die Auswahl an Fitness- und Gesundheitstrackern ist riesig und kaum noch überschaubar. So ist es für uns heute normal, dass Smartwatches unseren Alltag begleiten. Schon jetzt können die smarten Uhren eine Vielzahl an Daten erfassen. Beispielsweise Schrittzahl, Kalorienverbrauch, Herzfrequenz, Schlafphasen, Stresslevel, Sauerstoffgehalt, Hauttemperatur - um hier nur einige zu nennen. Ab dem Apple Watch Modell Series 4 können mittlerweile EKGs mit der Smartwatch aufgezeichnet werden2. Auch die Fitbit EKG-App auf den Modellen Fitbit Sense und Charge 5 verfügt über diese Funktion3. Die smarten Assistenten erkennen Unregelmäßigkeiten im Herzrhythmus, die auf ein Vorhofflimmern hinweisen können und zeigen daraufhin eine Warnmitteilung an. Werden Daten erfasst, die auf eine ernstzunehmende Erkrankung hinweisen, werden die Nutzer*innen gebeten, unverzüglich einen Notdienst zu verständigen. Zudem können die aufgezeichneten EKG-Kurven als PDF an Ärzt*innen übermittelt werden.

Die Nutzung von smarten Sensoren im Alltag kann uns helfen, verborgene Körpersignale nicht nur in klinischer Umgebung sondern auch zuhause und unterwegs zu erfassen. Und genau da setzt Connected Healthcare an - die Gesundheitsversorgung soll flexibler und autonomer organisiert werden. Dadurch soll auch außerhalb von Arztpraxen und Krankenhäusern/ bisherigen Strukturen medizinische Versorgung gewährleistet werden.

Connected Healthcare: Nutzen und Risiken

Die Vorteile solcher Technologien sind offensichtlich. Sie sollen das Erfassen von Gesundheitsinformationen und deren Austausch erleichtern, und so zur Früherkennung von Krankheiten beitragen. Darüber hinaus können sie auch bei der Diagnostik und Therapie eingesetzt werden. Aber tragen diese smarten Sensoren tatsächlich zu einer gesünderen Lebensweise bei? Schlafen wir tatsächlich entspannter mit einer Uhr am Handgelenk? Bewegen wir uns mehr, wenn wir unsere Schritte zählen lassen?

Die unterschiedlichen Messwerte werden für uns zukünftig noch interessanter werden, wenn es uns gelingt verschiedene Datenklassen (Bewegungs-, Standort- und medizinische Daten) zusammenzuführen und darin Muster zu erkennen. Connected Healthcare kann demnach dazu beitragen, Zusammenhänge im individuellen Verhalten und der Gesundheit aufzudecken und diese für uns sichtbar zu machen. Sind die Herzrhythmusstörungen beispielsweise auf die täglichen Besuche im Fastfood-Restaurant zurückzuführen? Oder liegt es vielleicht an den stressigen Arbeitstagen in den letzten Wochen? Damit werden Wearables in Zukunft noch stärker die Rolle des digitalen Coachs und Alltagsassistenten einnehmen.

Dennoch sollten wir uns nicht ausschließlich auf diese kleinen Helfer zu verlassen. (Noch) kann mit Sensortechnik nicht alles erfasst werden, was zu unserem Wohlbefinden und unserer Gesundheit beiträgt. Trotz all der technischen Möglichkeiten dürfen wir nicht verlernen, auf die Signale unseres Körpers zu achten. Wir sollten uns nicht erst dann um unsere Gesundheit kümmern, wenn unsere Smartwatch Alarm schlägt. Das Gesundheits-Krankheits-Kontinuum von Aaron Antonovsky zeigt, dass Gesundheit komplex und vor allem individuell ist. Der Mensch besteht dabei nicht nur aus messbaren Parametern. Zum Wohlbefinden gehören nicht nur physische Aspekte, essentiell ist auch das mentale und soziale Wohlbefinden. Selbst wenn alle Parameter im Normalbereich liegen und wir augenscheinlich (körperlich) gesund sind, heißt es nicht, dass wir uns auch gesund fühlen. Wir sollten uns künftig daher auch die Frage stellen, wie sich das ständige Erfassen von Gesundheitsdaten und das Überwachen der eigenen Gesundheit auf unsere Psyche auswirkt. Sind wir nicht vielleicht auch dadurch zunehmend gestresst, weil uns der Gesundheitswahn packt? Es immerzu Parameter gibt, die noch besser aussehen könnten und zu denen wir Tipps von unseren Gadgets bekommen4?

Gesundheits-Krankheits-Kontinuum und Dimensionen der Gesundheit (nach Antonovsky, 1979 & WHO, 1948)
Gesundheits-Krankheits-Kontinuum und Dimensionen der Gesundheit (nach Antonovsky, 1979 & WHO, 1948)


Wegbereiter für Gesundheitsförderung und Prävention?!

Kleiner und unauffälliger werdende Sensoren und weiterentwickelte Algorithmen bieten noch viel Potential - gerade in Hinblick auf (individuelle) Gesundheitsförderung und Prävention. Bereits heute wird der Einsatz von Smartwatches als Methode des Langzeitmonitorings zur Vorhersage von Vorhofflimmern, Schlafapnoe und COPD in Studien untersucht5. Ob wir unsere täglich aufgezeichneten Gesundheitsdaten durch eine Datenspende generell der Forschung zur Verfügung stellen sollten, wird immer häufiger diskutiert. Mit der Aufzeichnung von gesundheitsbezogenen Parametern würden wir so nicht nur unsere eigene Gesundheit im Blick behalten. Unsere Daten könnten dazu beitragen, dass Krankheiten zukünftig durch bessere Diagnostik früher erkannt werden und deren Behandlung verbessert wird. Smartwatch und Co. bieten dann nicht nur einen Nutzen für den oder die Einzelne, sondern auch für andere.

Doch neben der Weiterentwicklung von technischen Aspekten und der Diskussion um Datenspenden sollten wir die Förderung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung nicht aus dem Auge verlieren. Daten und Ergebnisse sollten nicht nur erhoben werden. Sie müssen auch transparent dargestellt und interpretiert werden können, um daraus die entsprechenden gesundheitsfördernden Schlussfolgerungen zu ziehen. Dabei sollten wir nicht vergessen, selbst in uns hineinzuhören und die Signale unseres Körpers achtsam wahrzunehmen. Wie oft stellen wir uns eigentlich selbst noch die Frage “Wie geht es mir?” oder “Wie fühle ich mich heute?”.

Der Blogbeitrag greift nur einige Aspekte der Diskussion um den Nutzen und die Einsatzmöglichkeiten von Wearables auf. Wie sich die zunehmende Selbstoptimierung auf das Miteinander auswirken könnte oder in welcher Weise wir als Gesellschaft verantwortungsvoll mit den erhobenen Gesundheitsdaten umgehen sollten, haben wir an dieser Stelle (noch) nicht aufgegriffen. Welche weiteren Chancen und Risiken mit Wearables und Connected Healthcare verbunden werden, wird sich in naher Zukunft sicher zeigen.


Literatur
1Feierabend, Sabine/Rathgeb, Thomas/Kheredmand, Hediye/Glöckler, Stephan (2020a). JIM-Studie 2020. Jugend, Information, Medien. https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2020/JIM-Studie-2020_Web_final.pdf.

1Deloitte (2021): Mobile & Digital Consumer Trends Survey 2021. Ausgewählte Ergebnisse für den deutschen Markt, abgerufen unter www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/de/Documents/technology-media-telecommunications/Mobile_Digital_Consumer_Trends_Survey_2021_Deloitte.pdf

2www.apple.com/de/healthcare/apple-watch/

3www.fitbit.com/global/de/technology/ecg

4van Dijk, E., Westerink, J. & Ijsselsteijn, W. (2014): Self-tracking of stress: what are the effects?, Conference Paper

5Ledwoch, J. & Duncker, D. (2020): eHealth – Smart Devices revolutionieren die Kardiologie. Herzschr Elektrophys, 31(4), S. 368–374


Autoreninfo
Anna Knobloch
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Daniel Moll
LVG & AFS Nds. e. V.
Fachreferent
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