Liebe und Sexualität in Zeiten der Digitalisierung

Prof.in Dr.in Nicola Döring, Technische Universität Ilmenau

Fragt man Menschen, was ihnen im Leben besonders wichtig ist, so stehen eine glückliche Partnerschaft und ein befriedigendes Sexualleben weit oben auf der Wunschliste. Das heißt nicht, dass Menschen, die gerade eine sexarme Phase haben oder Single sind, grundsätzlich unzufrieden sein müssen. Viele können sich darauf einstellen oder möchten zuweilen bewusst eine Pause. Denn das Beziehungs- und Sexualleben kann auch belastend und anstrengend sein. Und manchmal sind andere Themen im Leben einfach vordringlicher. Doch langfristig fühlen sich Menschen oft einsam, unlebendig, unattraktiv, frustriert und verbittert, wenn ihnen emotionale Zuwendung und körperliche Liebe fehlen.

Positive Erfahrungen rund um Liebe und Sex sind also eng verbunden mit der psychischen und körperlichen Gesundheit.1 Dabei geht es nicht darum, gesellschaftlichen Normen und medialen Idealbildern von der angeblich „perfekten Beziehung“ und dem „grandiosen Sex“ hinterherzulaufen, sondern diese Lebensbereiche so zu gestalten, wie es den eigenen Möglichkeiten und Bedürfnissen entspricht.

Digitalisierung als Lust und Last gleichermaßen

Welche Rolle spielt dabei nun die Digitalisierung? Hilft sie uns, passende Sexual- und Liebespartner*innen zu finden, das eigene Beziehungs- und Sexualleben lustvoll zu gestalten und damit auch das allgemeine Wohlbefinden und die Gesundheit zu stärken? Oder schaden die vielfältigen Social-Media-Plattformen, Online-Dating-Dienste und Sexkontakt-Apps (siehe Abbildung 1) eher, weil sie Konsummentalität, Konkurrenzdruck, Oberflächlichkeit und falsche Erwartungen fördern und noch dazu Risiken wie Dating-Betrug und sexuelle Übergriffe mit sich bringen?

Abbildung 1: Auswahl an digitalen Dating-Portalen
Abbildung 1: Auswahl an digitalen Dating-Portalen2
Die Antwort auf Fragen nach den positiven und negativen Effekten der Digitalisierung ist eindeutig zweideutig.
Sie lautet: sowohl als auch.

Denn Alltagserfahrung und Forschung zeigen übereinstimmend zahlreiche Probleme und Risiken für Liebe und Sexualität in Zeiten der Digitalisierung auf, gleichzeitig aber auch viele Lösungen und Chancen.3

Erfolg und Misserfolg bei der digitalen Partnersuche

Es ist heutzutage für die meisten Menschen ein Leichtes, im Bekanntenkreis glückliche Paare zu finden, die sich ohne Internet nie gefunden hätten. Und die sogar mit richtig romantischen Geschichten ihrer ersten Online-Begegnung aufwarten: „Ich hatte schon mein Abo auf der Plattform gekündigt und nur nochmal kurz reingeschaut. Und dann kam plötzlich diese Nachricht und ich hatte sofort Herzklopfen...“

Ebenso ist es ein Leichtes, frustrierte Singles zu finden, die Horrorgeschichten darüber erzählen, wie sie auf Dating-Apps reihenweise ignoriert, belogen, belästigt, ausgenommen und sitzengelassen wurden. „Ich habe zwei Jahre lang mein Abo bezahlt und in der Zeit mindestens fünfzig Leute angeschrieben, bin immer ganz persönlich auf ihr Profil eingegangen. Ergebnis: Meist nicht mal eine Antwort. Bei dem einzigen Date, das ich hatte, stellte sich raus, dass die Person ein Foto eingestellt hatte, das über 15 Jahre alt ist.“

Zwischen dem großen Glücksgriff und der Totalkatastrophe gibt es noch zahllose undramatische Erfahrungen mit Online-Kontaktanbahnungsversuchen, die belanglos, zäh und öde ausfallen und einfach zu nichts führen.

Ob die digitale Partnersuche von Erfolg gekrönt ist oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. Etwa vom eigenen „Marktwert“, von der Kommunikationsfähigkeit und von dem Geschick, die digitalen Singlebörsen, Partnervermittlungen und Datings-Apps richtig auszuwählen und einzusetzen: Welche Fotos man hochlädt, wie man sich und seine Wünsche beschreibt, wie und vor allem an wen man Kontaktanfragen formuliert, wie schnell und schlagfertig man schriftlich antwortet, wann man das erste Mal telefoniert – all diese und weitere Faktoren beeinflussen, ob man sich näherkommt oder nicht. Auch Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz sind gefragt. Denn einfach so per Klick oder Swipe ist online kein passendes Gegenstück zu finden, selbst wenn die Werbeversprechen der Plattformen das verheißen.4

Eine bevölkerungsrepräsentative Umfrage zeigte, dass schon rund ein Drittel der Deutschen digitale Dating-Dienste wie Lovoo, Tinder, Parship oder Elitepartner genutzt haben und dabei durchaus Erfolge verzeichnen konnten (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Erfolgsentwicklungen bei Dating-Portalen
Abbildung 2: Erfolgsentwicklungen bei Dating-Portalen

Weiterführende Informationen zu Abbildung 2: Erfolgsangaben auf der Basis einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe von N=1.039 Erwachsenen (18-69 Jahre), von denen 37% (n=381) mindestens ein Dating-Portal aktuell nutzen oder in der Vergangenheit genutzt haben.5 Von diesen Nutzer*innen (100%) fanden zwei Drittel (62%) durch die Plattform mindestens ein Date, knapp ein Drittel mindestens eine Beziehung (31%), wobei bei einem Sechstel (17%) diese Beziehung immer noch anhält. Die Transferrate meint zusätzlich den Prozentsatz der Erfolgreichen, bezogen auf die jeweils vorgenannte Gruppe: So fanden 17% von allen Plattform-Nutzer*innen eine bis heute anhaltende Beziehung bzw. 55% (Transferrate) derjenigen Nutzer*innen, die mindestens eine Beziehung über die Plattformen anbahnen konnten.

Hilfestellungen in Foren und durch Dating-Coaches

Dass Dating-Portale grundsätzlich nur Zeit- und Geldverschwendung sind, kann man also nicht behaupten. Kontaktsuchende finden einander: Flirts, One-Night-Stands, Affären, Freundschaften mit Vorzügen, Beziehungen und Ehen kommen zustande. Doch die Statistik zeigt gleichzeitig auch, dass viele Nutzer*innen leer ausgehen. In den Online-Foren der Dating-Plattformen, etwa im Forum von Elitepartner oder von Parship, klagen sie sich gegenseitig ihr Leid und sprechen sich Mut zu. Dass so viele Menschen mit den Anforderungen moderner Online-Partnersuche kämpfen, einfach nicht wissen, warum ihr Profil resonanzlos bleibt und aus ihren Dates nie etwas wird, hat inzwischen ein neues Berufsbild hervorgebracht: Teils selbst ernannte, teils psychologisch ausgebildete sogenannte Online-Dating-Coaches überschwemmen den Buch-Markt und die Sozialen Medien mit ihren Ratschlägen für erfolgreiches digitales Kennenlernen. Allein auf YouTube haben sie Hunderttausende von Videos veröffentlicht. Manche Dating-Coaches regen die Partnersuchenden zur kritischen Selbstreflexion an, andere vermitteln eher manipulative Tricks und viele propagieren traditionelles Geschlechtsrollenverhalten als angebliches Erfolgsrezept.

Die kulturpessimistische Klage, dass Online-Dating eine Warenhaus-Mentalität geschaffen habe und niemand sich mehr binden mag, weil man ja online jederzeit vermeintlich ganz leicht etwas Besseres finden könnte, ist stark übertrieben. Viele Nutzer*innen kämpfen monate- und jahrelang darum, sich über die Portale überhaupt ein Date zu organisieren oder eine Beziehung aufzubauen. Und viele melden sich von den Portalen auch unverrichteter Dinge wieder ab – um es doch lieber wieder mit dem Offline-Kennenlernen zu versuchen. Ein Schlaraffenland findet man online also nicht.

Andererseits hat das Online-Dating vielen, vormals isolierteren Bevölkerungsgruppen ein aktives Liebes- und Sexualleben deutlich erleichtert.

Dazu gehören Angehörige sexueller Minderheiten, die im Offline-Umfeld generell weniger Kontaktmöglichkeiten haben: Lesbisch, schwul, bisexuell oder queer identifizierte Menschen, Menschen mit BDSM-Interessen, Menschen, die einvernehmlich nicht-monogam leben und auch asexuelle Menschen. Sie finden online Gemeinschaften, Unterstützung und Kontakte, was angesichts gesellschaftlicher Diskriminierung für ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit besonders wichtig ist. Nicht zu vergessen sind auch die älteren Menschen. In dieser durch den demographischen Wandel stark wachsenden Bevölkerungsgruppe ist es in den letzten Jahren zum stärksten Wandel im Sexualverhalten gekommen: Ältere Frauen und Männer emanzipieren sich zunehmend von Negativ-Stereotypen des Alterns und suchen nach Trennung oder Verwitwung noch einmal aktiv ihr romantisches und sexuelles Glück, nicht selten auch online. Dementsprechend gibt es auch diverse Online-Dating-Ratgeber speziell für die Silber-Generation.

Digitale Beziehungspflege

Deutschland ist keine Gesellschaft der Singles und Alleinlebenden: 77% der Erwachsenen in Deutschland leben laut statistischem Bundesamt6 mit Partner*innen und/oder Kindern zusammen. Wenn wir also über die Gestaltung des Sexual- und Beziehungslebens im Digitalzeitalter sprechen, geht es mehrheitlich darum, wie in bestehenden Partnerschaften Digitalmedien eingesetzt werden.

Und ebenso wie bei der Digitalisierung der Partnersuche, gehen auch bei der Digitalisierung der Beziehungsgestaltung Lust und Frust Hand in Hand3

So können Paare ihre Bindung stärken und ihr Sexualleben beleben, indem sie digitale Möglichkeiten dazu nutzen, sich zwischendurch Liebesbotschaften zu senden, sexy Selfies auszutauschen und sich gemeinsam im Netz Anregungen zur Beziehungspflege zu holen. Die Digitalmedien können sich aber auch als Störquellen erweisen: Etwa wenn berufliche Anrufe in das Privatleben eindringen, es zu Cyberuntreue kommt oder zu ständigen Handykontrollen aufgrund von Eifersucht. Die Digitaltechnologie wirkt hier oft wie ein Verstärker für ohnehin bestehende Beziehungsprobleme. Das gilt besonders auch für das Beziehungsende: Eine Trennung kann mit digitalen Mitteln besonders unfair verlaufen, etwa wenn das Schlussmachen unpersönlich per WhatsApp erfolgt, wenn im Nachgang intime Bilder verbreitet werden oder wenn die Trennung nicht akzeptiert und mit Online-Stalking reagiert wird.

Fazit

Digitale Medien haben die zwischenmenschlichen Verbindungen bis in den intimen Bereich von Liebe und Sexualität tiefgreifend verändert.

Das geht mit Risiken und Chancen einher, die es zu gestalten gilt. Die meisten Menschen berichten, dass der Digitaleffekt auf ihr eigenes Liebes- und Sexualleben moderat und trotz einiger Negativerfahrungen unter dem Strich eher positiv ist.7 Das heißt, sie haben sich auf die neuen Bedingungen eingestellt und Glück gehabt. Diejenigen, die Pech haben und an den Herausforderungen der digitalen Kontaktsuche und Beziehungspflege scheitern, benötigen Unterstützung. Hier sind neben psychosozialer Beratung auch rechtliche Regelungen und Strafverfolgung angesprochen, etwa bei Online-Stalking, Rache-Pornografie, organisiertem Dating-Betrug oder Abo-Fallen von Plattform-Anbietern.

Zudem ist eine gute Aufklärung notwendig, damit Menschen aller Altersgruppen die Risiken und Chancen sexueller und romantischer Online-Aktivitäten für sich bewusst abwägen und Schutzmaßnahmen ergreifen können. Eine entsprechende Aufklärung sollte im Zuge der elterlichen und schulischen Sexual- und Beziehungsaufklärung beginnen, da Jugendliche in digitalen Welten aufwachsen.

In Zeiten der Corona-Pandemie gehören die Dating-Plattformen zu den Gewinner*innen der Krise.8 Denn noch mehr Jugendliche und Erwachsene verlagern ihre Suche nach Beziehungs- und Sexualpartner*innen auf Online-Portale und Smartphone-App, und noch mehr Menschen leben ihre Bedürfnisse nach Nähe während der Pandemie zeitweise lieber digital per Online-Flirt, Telefon- und Cybersex aus, um Infektionsrisiken zu vermeiden. Gesundheitsbehörden weltweit empfehlen Digitalsex in Pandemie-Zeiten ausdrücklich als Präventionsverhalten. Unabhängig von Ausnahmesituationen wie Pandemien stellen die digitalen Möglichkeiten im besten Fall eine sinnvolle Erweiterung und Ergänzung persönlicher Kontaktaufnahme und körperlicher Nähe dar, keinen Ersatz.


Literatur
1 Diamond, L. & Huebner, D. (2012). Is good sex good for you? Rethinking sexuality and health. Social and Personality Psychology Compass, 6(1), 54-69. https://doi.org/10.1111/j.1751-9004.2011.00408.x
2 Splendid Research GmbH (2017). Studie: Dating-Portale und die große Liebe. Eine repräsentative Umfrage unter 1.039 Deutschen zu ihrem Glauben an die große Liebe und zu Dating-Portalen. S. 9. Online-Dokument: https://www.splendid-research.com/de/studie-dating-portale.html
3 Döring, N. (2019). Sexuelle Aktivitäten im digitalen Kontext. Aktueller Forschungsstand und Handlungsempfehlungen für die Praxis. Psychotherapeut, 64(5), 373-384. https://doi.org/10.1007/s00278-019-00371-3
4 Finkel, E., Eastwick, P., Kerney, B., Reis, H., & Sprecher, S. (2012). Online Dating: A Critical Analysis From the Perspective of Psychological Science. Psychological Science in the Public Interest, 13 (1), 3-66. https://doi.org/10.1177/1529100612436522
5 Splendid Research GmbH (2017). Studie: Dating-Portale und die große Liebe. Eine repräsentative Umfrage unter 1.039 Deutschen zu ihrem Glauben an die große Liebe und zu Dating-Portalen. S. 18. Online-Dokument: https://www.splendid-research.com/de/studie-dating-portale.html
6 Destatis (Statistisches Bundesamt) (2021). Familie, Lebensformen und Kinder. Auszug aus dem Datenreport 2021. Online-Dokument: https://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Campus/Datenreport/Downloads/datenreport-2021-kap-2.pdf
7 Döring, N. & Mohseni, R. (2018). Are Online Sexual Activities and Sexting Good for Adults‘ Sexual Well-Being? Results from a National Online Survey. International Journal of Sexual Health, 30(3), 250-263. https://doi.org/10.1080/19317611.2018.1491921
8 Döring, N., & Walter, R. (2020). Wie verändert die COVID-19-Pandemie unsere Sexualitäten? Eine Übersicht medialer Narrative im Frühjahr 2020. Zeitschrift für Sexualforschung, 33(02), 65-75. https://doi.org/10.1055/a-1165-7760


Kontakt
Prof.in Dr.in Nicola Döring,
Technische Universität Ilmenau
Professorin für Medienpsychologie und Medienkonzeption
www.nicola-doering.de