(Medien-)Sozialisation sozial benachteiligter Heranwachsender

Welche Konsequenzen sind nötig?

Dr. Ingrid Paus-Hasebrink Univ.-Prof. i.R. Dr. Ingrid Paus-Hasebrink M.A.

Aufwachsen heute heißt Aufwachsen mit Medien. Plattformen wie Instagram und vor allem TikTok sowie die bei Kindern besonders beliebte Messenger-App WhatsApp, aber auch noch Facebook, prägen die Medienrepertoires junger Menschen. Kinder und Jugendliche müssen daher von frühauf lernen, mit unterschiedlichen Medienangeboten umzugehen. So zählt heute die Entwicklung von Medienkompetenz im Sinne einer breiten Alltagskompetenz, zu der digitale, aber auch soziale und gesundheitliche Kompetenzen zählen, zu einem bedeutenden Ziel in der Gesellschaft, doch dazu brauchen Kinder und Jugendliche Unterstützung.

Mediennutzung in gesellschaftlichen Ausnahmesituationen

Diese Feststellung gilt ganz besonders in gesellschaftlichen Ausnahmesituationen wie der seit Anfang 2020 andauernden globalen Covid-19-Pandemie. Insbesondere junge Menschen droh(t)en zu den Leidtragenden der Pandemie zu werden, dies galt und gilt vor allem für die sozial benachteiligten unter ihnen; denn die Pandemie hat gesellschaftliche Bruchlinien stärker und soziale Ungleichheit größer werden lassen. Den in dieser Zeit angestiegenen Druck in der Alltagsbewältigung hätten Kindergärten und Schulen zumindest tendenziell ausgleichen können; diese waren jedoch geschlossen oder sie sind oft unzureichend ausgestattet, um Mängel abmildern zu helfen. Die Ergebnisse der Langzeitstudie zur (Medien-)Sozialisation Heranwachsender in Österreich (zu Beginn der Studie 2005 waren die Jungen und Mädchen ca. fünf Jahre alt, zum Ende der Studie 2021 junge Erwachsene) verdeutlicht: Insbesondere sozio-ökonomisch weniger gut ausgestatteten Eltern fehlt es an adäquaten Handlungsmöglichkeiten und Kompetenzen, ihre Kinder im Alltag zu unterstützen – auch und gerade im Hinblick auf den Umgang mit Lernangeboten.

Ansätze zur Förderung von Alltagskompetenz

Sozial benachteiligte Eltern verfügen zumeist über wenig Medienkompetenz, und dabei geht es heute längst nicht mehr nur um Fernsehkompetenz, sondern vielmehr um eine umfassende Medienkompetenz, in deren Mittelpunkt die Onlinekompetenz steht. Diese bezieht sich nicht allein auf technische Fertigkeiten, sondern insgesamt auf einen kompetenten Umgang mit den Chancen und Risiken des Internets.

Wie die Studie zeigt, ist ein zentraler Ausgangspunkt, dass alle, die Verantwortung für die Erziehung junger Menschen tragen, bereit und in der Lage sein müssen, sich mit den spezifischen Interessen und Vorlieben, aber auch mit den Ängsten Heranwachsender, nicht zuletzt im Umgang mit Medien, auseinanderzusetzen. Das bedeutet vor allem, sich auf die Belange der jungen Menschen einzulassen, und dies möglichst vorurteilsfrei. Anders als oft angenommen ist eine übermäßige und risikobehaftete Mediennutzung nicht als originärer Verursacher von Problemen anzusehen; sie erweist sich vielmehr als Symptom eingeschränkter Handlungsoptionen in Familien, wie allen voran mangelnder sozio-ökonomischer Ressourcen, etwa in Folge von Arbeitslosigkeit. Diese Probleme gehen nicht selten einher mit unterschiedlichen Krankheiten in den Familien und einer oft starken sozio-emotionalen Belastung, wenn nicht gar Überlastung, der Familien im Alltag. So wurde deutlich, dass es den während der Gesamtzeit der Studie durchgängig sozial benachteiligten Eltern schlechter gelang, ihren Kindern die notwendige Aufmerksamkeit und Unterstützung zu geben, als etwa den Familien, die sich im Laufe der Studie sozio-ökonomisch und damit auch oft sozio-emotional stabilisieren konnten.

Soziale Benachteiligung ist allerdings nicht gleich soziale Benachteiligung. So benötigen besonders belastete Familien umfassende Förderkonzepte (für die gesamte Familie), die auf ihre jeweiligen lebensweltlichen Bedingungen Rücksicht nehmen und differenziert und möglichst individuell auf die Bedürfnisse der Kinder und ihre Fähigkeiten eingehen. Dabei spielen Kindergärten und Schulen eine wichtige Rolle. Dort können Kinder, wie dies auch der Wunsch zahlreicher sozial benachteiligter Eltern in der Studie war, medienpädagogische und darüber hinaus auch soziale Verhaltensweisen lernen. Außerdem ist die Aufmerksamkeit von Erziehungs- und Lehrpersonen auch in Bezug auf die sozialen Belange eines Kindes sehr wichtig. Wenn erkennbar familiäre Probleme in der Erziehung der Kinder auftauchen, können sie eine wichtige Schnittstelle zu weiterführenden Einrichtungen darstellen, u.a. der Kinder- und Jugendhilfe.

Im Kontext der Langzeitstudie erwiesen sich zum Beispiel betreute Wohneinrichtungen auch mit Blick auf die Mediennutzung und Förderung von Medienkompetenz der Kinder als wirksame Hilfe für Kinder, deren Eltern nicht in der Lage waren, ihre Kinder zu betreuen. Der geregelte und begleitete Alltagsablauf in den Einrichtungen gab den Kindern Halt und Orientierung. Notwendig ist, dass gezielte Familienhilfe und Elternbildung stets Hand in Hand gehen, um die Partizipationschancen sozial benachteiligter Heranwachsender an der Gesellschaft zu fördern. Ein breit gefasstes Unterstützungsprogramm erweist sich auch bei dem wichtigen Übergang Heranwachsender von der Schule hin zu einer Ausbildung als hoch relevant, denn auch dann benötigen junge Menschen Unterstützung. Um dies zu gewährleisten, bedarf es auch dabei eines konsequenten und nachhaltigen Handelns in einem Verbundnetz unterschiedlicher Akteure.

Die Quintessenz

Die Langzeitstudie macht unmissverständlich deutlich, dass gesellschaftlicher Handlungsbedarf auf vielfältigen Ebenen besteht und es einer großen, aber nicht nur finanziellen Anstrengung der Gesellschaft bedarf, um Kindern in sozial benachteiligten Familien das ihnen – wie anderen Kindern und Jugendlichen – zustehende Recht auf Entwicklung, Integration und Partizipation zu gewährleisten. Es ist daher überfällig, Konstellationen zu schaffen, die die Einlösung dieses Rechtsanspruchs möglich machen. Dazu sind sowohl auf staatlicher als auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene umfassende Integrationskonzepte in allen Phasen der Sozialisation junger Menschen aus sozial belasteten Elternhäusern zur Unterstützung und Begleitung junger Menschen nötig. An ihrer Umsetzung sollten von den Kindergärten und Schulen über Familienämter und Einrichtungen des Kindes- und Jugendwohls bis hin zu Jugendhilfe- und Elternbildungseinrichtungen, aber auch öffentliche Einrichtungen, nicht zuletzt auf kommunaler Ebene, beteiligt sein [(siehe zu den notwendigen Unterstützungsangeboten für Familien im gesamten Bildungsverlauf der Kinder auch den Neunten Familienbericht des Deutschen Bundesfamilienministeriums (www.bmfsfj.de/bmfsfj/ministerium/berichte-der-bundesregierung/neunter-familienbericht)].

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es eine gesteigerte Aufmerksamkeit und ein deutlich stärkeres Verantwortungsbewusstsein der Gesellschaft braucht, um Voraussetzungen für die Multi-Optionalität zu schaffen, die nötig ist, um jungen Menschen, und nicht zuletzt sozial benachteiligten jungen Menschen, auch und insbesondere in Krisenzeiten wie der Covid-19-Pandemie, die ihnen zustehenden Partizipationsmöglichkeiten zu gewährleisten. Es erscheint unerlässlich, soziale Ungleichheit – und dies insbesondere mit Blick auf ihre Folgen für die Sozialisation junger Menschen – nicht nur zu erkennen, sondern sie auch politisch zu bekämpfen, und damit Kinder und Jugendliche und nicht zuletzt auch junge Erwachsene von frühauf zu unterstützen, damit sie nicht an den Rand der Gesellschaft geraten. Dazu gehört auch die Stärkung der Handlungskompetenz junger Menschen und in diesem Kontext die vom Kindergarten an notwendige Förderung eines kritisch-kompetenten Mediengebrauchs junger Menschen.

Kontakt
Ingrid Paus-Hasebrink, Univ.-Prof. i. R., Dr.
Fachbereich Kommunikationswissenschaft, Universität Salzburg
E-Mail: ingrid.paus-hasebrink@plus.ac.at

Langzeitstudie
15 Jahre Panelstudie zur (Medien-)Sozialisation: Wie leben die Kinder von damals heute als junge Erwachsene?