Mehr Mut zum Risiko

– Daten, Prävention und ein nachhaltiges Gesundheitssystem

Thore Bürgel Arbeitsgruppe Artificial Intelligence, Professor Roland Eils
Digital Health Center, Berlin Institute of Health @Charité

Immer mehr Kranke, steigende Kosten und sinkende Zufriedenheit. Warum wir unser Gesundheitssystem radikal umbauen müssen und weshalb elektronische Gesundheitsdaten der Schlüssel für die Zukunft sind.

Status Quo

Seit der Antike, den Zeiten von Hippokrates und Galen, sind die systematische Diagnose und Therapie von Krankheiten die zentralen Elemente westlicher Medizin. Medizin gilt als erfolgreich, wenn nach strukturierter Diagnostik, durch eine zielgerichtete Therapie der ursprüngliche gesundheitliche Status wiederhergestellt wurde. Natürlich hat sich seit den alten Griechen einiges getan: der modernen Medizin des 21. Jahrhunderts stehen aufwendigste Maschinen, Methoden und Medikamente zur Verfügung und Galens Mittel der Wahl, Badekuren, Aderlass und Schröpfen wurden durch Magnetresonanztomografen (MRT), achtarmige High-Tech OP-Roboter und antikörperbasierte Tumortherapien ersetzt. Dank stetigem Fortschritt, immer genauerer Diagnose und immer besserer Behandlung, sind viele früher sicher tödliche Krankheiten, von der einfachen bakteriellen Infektion über den Herzinfarkt bis zu Tumorerkrankungen heute heilbar. So positiv diese Entwicklung ist, so deutlich sind die Warnsignale, dass der reine Fokus auf Krankheitsbehandlung nicht nachhaltig sein kann. Seit Jahren steigen die durch Krankheiten verursachten Kosten stetig, zuletzt lagen die Ausgaben in Deutschland bei 4,140 EUR pro Kopf1. Dabei steht das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich im Mittelfeld: die pro Kopf Ausgaben in Deutschland resultieren in einer durchschnittlichen Lebenserwartung von etwas über 80 Jahren. Die Gesundheitssysteme in Dänemark, Finnland und UK erreichen eine vergleichbare oder höhere Lebenserwartung zu deutlich niedrigeren Kosten, lediglich die Schweizer*innen und Amerikaner*innen geben bei einer niedrigeren Lebenserwartung mehr Geld für ihr Gesundheitssystem aus2. Den größten Anteil an den absoluten Kosten verursachen dabei Alterskrankheiten. Nicht zuletzt aufgrund des demografischen Wandels ist die Prognose für die Zukunft des deutschen Gesundheitssystems daher düster: Expert*innen von der INGES rechnen bereits für das Jahr 2025 mit einem Rekorddefizit von 27,3 Milliarden Euro3. Mit den aktuellen finanziellen Ressourcen, bedeutet das, dass das Gesundheitssystem in seiner heutigen Form dauerhaft nicht finanzierbar ist.

Krankheit kostet

Krankheit kostet also viel Geld und wird in Zukunft noch teurer. Deutlich schwerer als die finanziellen Ausgaben jedoch, wiegt das durch Krankheit verursachte Leid - eine Diagnostik und Therapie zentrierte Medizin kann das nicht mindern. Dabei gelten in den USA 27% aller Krankheiten als grundsätzlich vermeidbar und die durch vermeidbare Krankheiten verursachten Kosten belaufen sich laut Schätzungen auf mehr als 730 Milliarden Dollar4. Zwar fehlen für das deutsche System belastbare Zahlen, doch bedeutet jeder für die Behandlung einer vermeidbaren Krankheiten ausgegebener Cent auch Geld für vermeidbares Leid. Die Jahrhunderte alte Priorisierung von Diagnostik und Therapie hat zur Folge, dass die im heutigen Gesundheitssystem praktizierte Medizin trotz all ihres Fortschritts im ursprünglichen Wortsinn reaktionär ist. Wer keine Symptome hat, ist gesund und wer gesund ist, braucht keinen Arzt oder Ärztin, so die gängige Überzeugung. Erst als Reaktion auf eine Krankheit, wenn Symptome messbar sind, kommen die hochentwickelten Fertigkeiten unseres Gesundheitssystems zum Einsatz. Statt beispielsweise konsequent und präventiv den Blutdruck alternder Patient*innen einzustellen, warten wir ab bis sich Herz-Kreislauf Erkrankungen manifestieren, um dann keine Kosten und Mühen zu scheuen die Schäden durch Bypass, Stent oder Herzklappen-OP zu egalisieren. Fast die gesamte heute existente Gesundheitswirtschaft orientiert sich am Ende der krankheitlichen Kausalkette: im Fokus steht die Krankheit als zu behandelnder Fehler, nicht die Gesundheit als zu erhaltender Zustand. Im Bild der deutschen Lieblingsmetapher ist es als würde auf Assistenzsysteme, Anschnallgurte und Airbags verzichtet und stattdessen in immer kompetentere Kfz Mechaniker und schnellere Krankentransporte investiert. Dieses Konzept des reinen Krankheitsmanagements wird bei allem technologischen und wissenschaftlichen Fortschritts nie nachhaltig sein können. Stattdessen muss die Prävention, die konsequente Krankheitsvermeidung, die Prämisse unseres Gesundheitssystems werden.

Prävention als Fundament eines nachhaltigen Gesundheitssystems

So sinnvoll und notwendig die Positionierung von Prävention als zentrales Element unseres Gesundheitssystems erscheint, so groß sind die Herausforderungen bei der Umsetzung. Besonders deutlich wird das Ausmaß der Problematik am Beispiel der Vergütung: Versorger erhalten für jede Untersuchung, jede abgeschlossene Behandlung und jede durchgeführte Therapie ein Honorar, unabhängig davon, ob eine Maßnahme evident dem Patientenwohl zuträglich ist, also beispielsweise Lebensjahre rettet, oder nicht. Erfolgreiche Krankheitsvermeidung, im Gegenzug, wird überhaupt nicht vergütet. Die Folge ist, dass das gesamte Gesundheitssystem keine finanziellen Anreize für erfolgreiche Prävention bietet. Vielmehr schafft das aktuelle System eine falsche Incentivierung von Krankheit als notwendiges Kriterium zur Umsatzgenerierung. In einem nachhalten Gesundheitssystem dagegen, sollte die erfolgreiche Vermeidung eines Herzinfarktes, durch präventive Maßnahmen höher entlohnt werden als dessen Therapie.

Ein Hindernis auf dem Weg zur präventionsorientierten Vergütungskultur, ist die Bemessung des Präventionserfolgs. Wann genau gilt eine Krankheit als vermieden? Wer sollte präventiv behandelt werden und wie genau muss diese Behandlung aussehen? Um den Erfolg von Prävention zu bemessen, muss nicht nur der aktuelle, sondern auch der zukünftige Gesundheitszustand eines/r Patient*in quantifizierbar sein. Dies ist bereits heute mit Hilfe künstlicher Intelligenz möglich: sogenannte Risikostratifikationsmodelle errechnen auf Basis demografischer, biologischer und medizinischer Werte, exakte Prognosen über die Entwicklung zukünftiger Krankheitsrisiken. Unter Zuhilfenahme solcher Modelle könnte Prävention an der Risikosenkung, also dem Delta zwischen prognostizierter und tatsächlich erfahrener Krankheit bemessen werden. So könnten beispielsweise noch symptomlose Patient*innen mit hohem errechnetem Risiko in Präventionsprogramme eingeschlossen, engmaschig beobachtet und gegebenenfalls frühzeitig therapiert werden. Durch holistische Risikoquantifizierung und konsequente Intervention könnte das Gesundheitssystem also vom reaktiven Krankheitsmanagement ins proaktive Gesundheitsmanagement übergehen.

Mehr Mut zur Datennutzung

Die fundamentale Voraussetzung all dieser Überlegungen ist jedoch eine vollständige Datenbasis. So ist es für die Implementation holistischer Metriken für eine erfolgsbasierte Vergütung unumgänglich, die für ein Individuum aus einer Behandlung resultierenden Outcomes, also beispielsweise zukünftige Diagnosen oder notwendige Nachbehandlungen, zu erfassen und auszuwerten. Im deutschen Gesundheitssystem jedoch, gibt es aktuell weder eine systematische Erfassung von Outcomes, noch eine systematische Erfassung von Patientendaten. Konkret bedeutet das, dass die Frage, welchen Verlauf Patient*innen im deutschen Gesundheitssystem nach einer Behandlung erfahren nicht objektiv und systematisch zu beantworten ist. Das deutsche Gesundheitssystem befindet sich also weitestgehend im Blindflug.

Ohne eine gesamtheitliche Infrastruktur zur standardisierten Datenerfassung und Datennutzung ist eine Medizin der Krankheitsvermeidung nicht möglich. Die elektronische Patientenakte, wie in Deutschland zum Jahresbeginn 2021 an den Start gegangen erfüllt diese Rolle nur unzulänglich. Zu divers sind Standards, zu inkonsistent die Umsetzung und zu umständlich das System. Ein Konzept zur Datenauswertung zu Präventionszwecken fehlt vollkommen. So ist weder eine Nutzung der elektronischen Patientenakte zur Berechnung von Krankheitsrisiken oder zur statistischen Auswertung von Behandlungseffekten noch zur Berechnung individueller patientenzentrierter Erfolgsmetriken vorgesehen. Mit dieser Reduktion der elektronischen Patientenakte auf einen bloßes Medium zum Speichern und Übertragen von Daten, bleiben die interessantesten Potentiale dieser Schlüsseltechnologie ungenutzt. Dass es mit Blick auf ein nachhaltiges Gesundheitssystem neben einer systematischen Datenerfassung auch dem Willen zur Datennutzung bedarf, haben die Verantwortlichen immerhin erkannt: mit der TI 2.0, der nächsten Entwicklungsstufe der Telematikinfrastruktur, will die gematik Strukturen schaffen, auf welchen die Akteure des Gesundheitswesens gemeinsam, datenbasiert agieren können5.

Um unser Gesundheitssystem fit für die Zukunft zu machen braucht es Gestaltungswillen und Mut zur Nutzung neuer Technologien. Der Nachholbedarf ist groß und die Aufgabe gewaltig, doch eines ist klar: vom immensen Potential systematischer Prävention konnten Hippokrates und Galen nur träumen!


Literatur

1Krankheitskosten. Statistisches Bundesamt
https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Krankheitskosten/_inhalt.html

2Life expectancy vs. health expenditure. Our World in Data
www.ourworldindata.org/grapher/life-expectancy-vs-health-expenditure

3GKV-Finanzen: 2025 droht ein Defizit von 27,3 Milliarden Euro. IGES Institut GmbH
www.iges.com/kunden/gesundheit/forschungsergebnisse/2021/gkv-finanzen/index_ger.html

4Galea, S. & Maani, N. The cost of preventable disease in the USA. The Lancet. Public health vol. 5 e513–e514 (2020).

5gematik_Whitepaper_Arena_digitale_Medizin_TI_2.0_Web.pdf
www.gematik.de/media/gematik/Medien/Telematikinfrastruktur/Dokumente/gematik_Whitepaper_Arena_digitale_Medizin_TI_2.0_Web.pdf


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