Die digitale Welt als neue Lebenswelt?
Potenziale und Herausforderungen für die Gesundheit

Dr. Florian Fischer Institut für Gerontologische Versorgungs- und Pflegeforschung, Hochschule Ravensburg-Weingarten

Digitalisierung und Gesundheit – bei der Verbindung dieser beiden Begriffe denken wir vermeintlich zunächst an die Technisierung in der Medizin, insbesondere an innovative Technologien aus dem Bereich der Telemedizin. Dazu gehören Möglichkeiten der Kontrolle von Vitalparametern bei chronisch Erkrankten unter Überbrückung räumlicher und zeitlicher Distanzen, der Austausch zwischen verschiedenen Akteur*innen des Versorgungssystems über Videosprechstunden oder aber Technologien der Künstlichen Intelligenz die zum Beispiel in der Diagnostik eingesetzt werden – um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Digitale Technologien halten immer stärker Einzug in unseren Lebensalltag – und wirken sich dadurch direkt auf Gesundheit aus.

Digitalisierung und Gesundheit bedeutet aber mehr, denn digitale Technologien halten immer stärker Einzug in unseren Lebensalltag – und wirken sich dadurch direkt auf Gesundheit aus. So bietet das Internet vielfältige Möglichkeiten zur Recherche gesundheitsbezogener Themen und zum interaktiven Austausch. Apps oder Sensoren im Smartphone ermöglichen es, unser Bewegungs- oder Ernährungsverhalten kontinuierlich zu messen und somit langfristig zu beobachten (Quantified Self). Auch im Haushalt lassen sich immer mehr Systeme finden, die das Alltagsleben unterstützen sollen, zum Beispiel automatisch reagierende Lichtsysteme mit Bewegungssensoren zur Sturzprophylaxe im höheren Lebensalter (Ambient Assisted Living / Smart Home).

Doch Digitalisierung und Gesundheit bedeutet noch mehr. Insbesondere die Corona-Pandemie hat kurzfristig zu einem Digitalisierungsschub in fast allen Altersgruppen und Lebenslagen geführt. Digitalisierung ist mittlerweile (fast) zu einer eigenen Lebenswelt geworden. Digitaler Schulunterricht, Home-Office, soziale Kontakte über digitale soziale Netzwerke, kulturelle Veranstaltungen in Form von Podcasts oder über Streaming-Dienste stellen einige Bereiche dar, die sich indirekt – positiv wie negativ – auf unsere Gesundheit auswirken können.

Die Transformation von einer analogen in eine digitale Welt führt auch zu einem sozialen und kulturellen Wandel. Der digitale Wandel zeichnet sich durch Dynamik und Geschwindigkeit sowie durch seine vielschichtigen Implikationen auf die interdependenten Lebensbereiche aus. Daher bedarf es eines umfassenden Blicks darauf, wie sich Digitalisierung sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene auswirkt. Dieser umfassende Blick kann durch die disziplinübergreifende sowie forschungs- und anwendungsbezogene Perspektive von Public Health ermöglicht werden. Public Health bietet somit einen geeigneten Zugangsweg für die erforderliche kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf Gesundheit und die sie beeinflussenden Faktoren, wie z.B. Bildung und Beruf.

Mann mit Tablet-PC
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Die Auswirkungen sind nicht trivial, denn die Diffusion digitaler Anwendungen in unsere Lebenswelt ist heterogen und unter anderem abhängig von Alter und sozialem Status. So sind vor allem jüngere Menschen (Digital Natives) willens und in der Lage, digitale Technologien zu nutzen. Hinsichtlich des sozialen Status zeigt sich, dass Personen mit höherem Einkommen und besserer Bildung sich mehr zu gesundheitsbezogenen Themen im Internet informieren. Dadurch nimmt Digitalisierung in unterschiedlichem Maße Einfluss auf kontextuelle und subjektive Faktoren, wie etwa auf die uns umgebende Umwelt oder die Motivation zu einer gesundheitsrelevanten Verhaltensänderung. Zudem sind digitale Anwendungen schnelllebig und verändern sich somit nicht nur selbst, sondern auch die Gesellschaft und deren Umgang mit eben diesen Technologien. Und digitale Anwendungen berühren zumeist verschiedene Lebensbereiche; dann jedoch in unterschiedlich starker Art und Weise.

Digitalisierung bietet als neue Lebenswelt sowohl Potenziale als auch Herausforderungen. Neben den bereits angesprochenen Möglichkeiten zu einer barrierearmen gesundheits- oder krankheitsbezogenen Informationsrecherche sind mittlerweile auch Fake News und interessengeleitete Werbung als kritische Elemente zu betrachten. Vermehrt wird auch über Phänomene wie Internetsucht oder aber Auslösung bzw. Verstärkung hypochondrischer Tendenzen durch Informationen aus dem Internet (Cyberchondrie) diskutiert. Während soziale Interaktionen durch die Digitalisierung grundsätzlich erleichtert werden, muss jedoch kritisch hinterfragt werden, ob sich dadurch ggf. direkte persönliche Kontakte vermeintlich reduzieren. Dies betrifft auch die Frage, ob Freundschaften in oder über soziale Netzwerke dieselbe emotionale und soziale Unterstützung (Sozialkapital) – mit entsprechenden positiven Auswirkungen auf die Gesundheit – wie langjährige „analoge“ Freundschaften ermöglichen.

Aus der Perspektive von Public Health stellt sich zudem die Frage, ob Digitalisierung zu einer Verringerung oder aber zu einer Verstärkung von Ungleichheit führt.

Diese Debatte wird unter dem Begriff des Digital Health Divide geführt. Dabei wird sich mit den sozialen Unterschieden in der Nutzung digitaler Gesundheitsangebote auseinandergesetzt, die wiederum zu einer Verstärkung sozialer – und somit gesundheitlicher – Ungleichheit führen kann. Bislang ist unklar, inwieweit digitale Interventionen zu einer Reduktion des Präventionsdilemmas beitragen: Über digitale Technologien können auf der einen Seite auch jene Zielgruppen erreicht werden, die sonst keine präventiven oder gesundheitsförderlichen Angebote in Anspruch nehmen würden. Auf der anderen Seite sind jedoch entsprechende Kompetenzen für die Nutzung digitaler gesundheitsbezogener Anwendungen erforderlich (eHealth Literacy). Es liegt an uns als Gesellschaft, die neue Lebenswelt mit Digitalisierung aktiv zu gestalten und nicht die Digitalisierung unsere neue Lebenswelt gestalten zu lassen.


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Dr. Florian Fischer
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